Worüber würde sich wohl Ihre Schwester an ihrem Geburtstag freuen? Können Sie dem Rat Ihres Bankberaters/Arztes/Pfarrers tatsächlich vertrauen? Warum ist Ihr Partner heute Abend so gereizt? Womit könnten Sie Ihren Chef bewegen, auf Ihren Vorschlag einzugehen? Wer sich in andere hineinversetzen kann, ist im Leben klar im Vorteil. Aber woher wissen wir, was andere denken und fühlen? Und weshalb liegen wir mit unserer Einschätzung so oft falsch? Nicholas Epley, Professor für Verhaltensforschung an der University of Chicago, hat sich eingehend mit diesen Fragen beschäftigt. Hier unsere persönliche Auswahl seiner interessantesten Erkenntnisse, mitsamt simplify-Konsequenzen.
Misstrauen Sie Ihrer Intuition
Forscher haben ermittelt: In Sekundenschnelle bilden sich Wähler ein Bild von der Kompetenz eines Politikers – und sind sich ihrer Einschätzung so gewiss, dass sie vielfach ihre Wahlentscheidung danach ausrichten. Bei einer Untersuchung mit Paaren kam heraus: Je länger sich die beiden kannten, umso sicherer waren sie, die Selbsteinschätzung des anderen zu kennen – und lagen doch genauso oft daneben wie junge Paare.
simplify-Konsequenz: Hüten Sie sich vor der falschen Gewissheit, die durch lange Vertrautheit entsteht. Gehen Sie davon aus, dass auch Ihr Partner (Ihre Eltern, Ihre Sandkastenfreundin, Ihr langjähriger Kollege) Sie noch überraschen kann. Fragen Sie Ihre Sandkastenfreundin, ob sie mit Ihnen eine Städtetour machen möchte – statt anzunehmen, dass sie „wie immer keine Zeit haben wird“. Erkundigen Sie sich bei Ihrem Kollegen, wie er Ihre Arbeit derzeit sieht – vielleicht ist er längst nicht mehr so zufrieden wie vor 2 Jahren!
Verringern Sie die Distanz
In der Geschichte der Menschheit hat es unzählige Völkermorde gegeben, weil die Täter in den Angehörigen des fremden Volkes keine echten, gleichwertigen Menschen sahen. Auch im Alltag gilt: Je weiter Sie vom anderen weg sind, desto geringer ist Ihr Einfühlungsvermögen.
simplify-Konsequenz: Wollen Sie zu jemandem inneren Zugang gewinnen, verringern Sie die räumliche Distanz. Mit welchen Kollegen oder Kunden kommunizieren Sie fast ausschließlich per Mail oder Telefon? Sie verstehen sich besser, wenn Sie sich treffen. Folgen Sie dem Blick anderer Menschen! Wenn Sie sehen, worauf jemand seine Aufmerksamkeit richtet, können Sie sich leichter ein Bild davon machen, was in seinem Kopf vorgeht. Der Gedankensynchronisation besonders zuträglich: Bewegen Sie sich im Gleichklang. Dazu genügt schon ein Spaziergang.
Überwinden Sie die Fremdheit
Ein Areal in Ihrem Gehirn, der mediale präfrontale Cortex (MPFC), kann ziemlich gut wahrnehmen, was in anderen vorgeht. Nutzen Sie dieses hervorragende Werkzeug hinter Ihrer Stirn!
simplify-Konsequenz: Wenn Sie andere Menschen wie einen Gegenstand behandeln, schalten Sie Ihren MPFC aus. Grüßen Sie die Putzfrau, die Ihr Büro betritt, statt gedankenverloren auf Ihren Bildschirm zu blicken. Bitten Sie Ihren Sitznachbarn in der U-Bahn, ein wenig beiseitezurücken, statt ihn durch stilles Schubsen dazu zu zwingen. Aktivieren Sie Ihren MPFC, indem Sie bei Menschen, die Ihnen fremd erscheinen, nach Gemeinsamkeiten suchen: Was haben Sie als Manager mit den Arbeitern in Ihrer Firma gemeinsam (bzw. umgekehrt)? Was als Christ mit den Moslems im Nachbarhaus? Als Mann in der Midlife-Crisis mit einem Teenager?
Lösen Sie sich von Ihrer Sichtweise
Wenn kleine Kinder Verstecken spielen, glauben sie, der Sucher könne sie nicht sehen, wenn sie selbst ihn nicht sehen können (etwa weil sie sich ein Kissen vors Gesicht halten). Als Erwachsener haben Sie gelernt, die Perspektive zu wechseln – doch nicht immer funktioniert das. Epley bat seine Studenten, eine Reihe von moralisch zweifelhaften Handlungen (raubkopieren, krankfeiern) zu beurteilen. Das erstaunliche Ergebnis: Auch die, die mit ihrem Urteil zu einer klaren Minderheit gehörten, waren davon überzeugt, dass die Mehrheit ihrer Kommilitonen so dachte wie sie selbst.
simplify-Konsequenz: Auch in Ihnen als Erwachsener ist noch ein wenig vom Verstecken spielenden Kind. Epley meint dazu: Problem erkannt – Gefahr (schon fast) gebannt!
Achten Sie auf Hals und Linse
Stellen Sie sich vor, dass der Mensch, in den Sie sich einfühlen möchten, direkt neben Ihnen steht. Schon wenn er größer oder kleiner ist als Sie und erst recht, wenn er seinen Hals in eine andere Richtung wendet, wird er andere Dinge sehen als Sie. Fragen Sie sich: Was nehme ich wahr, der andere aber vielleicht nicht? Was sieht er, aber ich nicht? Zweites Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, Sie beide halten die Szene vor Ihren Augen mit einem Fotoapparat fest. Je nach der verwendeten Linse (Tele, Weitwinkel usw.) wird dabei ein anderes Bild entstehen. Ihr Gegenüber kann dieselbe Situation ganz anders interpretieren als Sie – ein Problem, das nach Epley weitaus schwieriger in den Griff zu bekommen ist als die Sache mit dem Hals.
simplify-Konsequenz: Sie möchten wissen, was jemand über Sie denkt? Machen Sie sich klar, dass er Sie viel schlechter kennt als Sie sich selbst. Außerdem findet er sich selbst wichtiger als Sie. Wenn Sie also Ihr Image bei Ihren Kollegen ändern möchten, werden Sie mit dezenten Verhaltensänderungen nicht weit kommen. Selbst wenn Sie selbst das viel Überwindung kostet – die anderen bekommen davon womöglich kaum etwas mit!
Sehen Sie Individuen
Sie meinen, keine Vorurteile zu haben? Trotzdem gibt es in Ihrem Kopf stereotype Vorstellungen, wie Angehörige bestimmter Gruppen ticken – durch eigene Beobachtungen, fremde Erzählungen und Medien. Je weniger Sie einen Menschen kennen, umso stärker füllen Sie Ihre Wissenslücken mit stereotypen Vorstellungen („Der neue Kollege ist in der DDR aufgewachsen, also …“). Das Gefährliche daran: Stereotype grenzen Gruppen voneinander ab und übertreiben die Unterschiede zwischen „denen“ und „uns“.
simplify-Konsequenz: Auch wenn an vielen Stereotypen etwas Wahres ist – wenn Sie in die Gedankenwelt eines einzelnen Menschen eintauchen möchten, sind sie hinderlich. Um die Macht stereotyper Vorstellungen zu brechen, reicht es nach Epleys Erkenntnissen oft, ein wenig mehr über den anderen zu wissen. Ein kurzes Gespräch, eine kleine Beobachtung – und schon wird sich der Bankberater, der obdachlose Mensch auf der Parkbank, der sächsisch sprechende Nebenmann aus dem Stereotyp lösen!
Überschätzen Sie nicht die Rolle des Kopfes
Die meisten Menschen sind überzeugt davon, vom Verhalten anderer auf deren Denken schließen zu können: In der befreundeten Familie wird Fleisch aus Massentierhaltung gegessen, weil den Eltern Tierschutz nicht wichtig ist. Doch nicht immer liegen sie damit richtig. Problematisch wird eine Fehlinterpretation, wenn Sie jemanden dazu bewegen möchten, sich anders zu verhalten, indem Sie sein Denken ändern.
simplify-Konsequenz: Unerwünschtes Verhalten anderer kann ganz andere Gründe haben als Ignoranz oder böse Absicht. Oft wirksamer für eine Verhaltensänderung als „Überzeugungsarbeit“ sind praktische Hilfen. Halten Sie Ihren Freunden keinen Vortrag über die Grausamkeit der Massentierhaltung, sondern finden Sie in deren Umgebung einen Biometzger, oder schenken Sie ein Rezeptbuch mit guten vegetarischen Gerichten.
Spekulieren Sie nicht …
… wenn Sie fragen können! So lautet Nicholas Epleys Fazit aus seinen Forschungen. Ihre Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ist begrenzt. Haben Sie stereotype Vorstellungen verinnerlicht, kann der Versuch, sich in andere hineinzuversetzen, sogar zu falschen Schlüssen verleiten. Wenn Sie davon ausgehen, dass Juristen von Berufs wegen Rechthaber sind, glauben Sie aufgrund Ihrer „Einfühlung“ vielleicht, der Kompromissvorschlag Ihres Juristen-Bekannten sei nur eine taktische Finte.
simplify-Konsequenz: Fragen Sie lieber, was jemand denkt, als warum er es denkt. Denn, so Epley: Nicht nur die Beweggründe anderer, auch unsere eigenen sind uns oft weniger klar, als wir annehmen.