Denken Sie an das größte Unglück, das sich in Ihrem Leben in den letzten Jahren ereignet hat. Das kann ein Verkehrsunfall sein, eine Krankheit, eine dumme finanzielle Entscheidung, ein schlimmer Streit mit einem anderen Menschen – was auch immer es ist, es beschäftigt Sie immer wieder. Die US-Lebensberaterin Martha Beck hat eine Methode entwickelt, wie Sie aus der Dauerdenkschleife herausfinden und durch das Erlebte stärker werden:
Schritt 1: Sammeln Sie Fakten
Arbeiten Sie mit Stift und Papier. Schreiben Sie das Unglück, das Ihnen widerfahren ist, mit allen Details in genauer zeitlicher Reihenfolge auf.
Beispiel 1: Ich habe im Dezember 2013 einen Prospekt über eine Geldanlage der Novafina AG erhalten, in dem mir eine gute, aber realistische Rendite versprochen wurde. Ich zahlte 20.000 € auf das angegebene Konto und erhielt eine Bestätigungsurkunde. Mitte 2015 kam ein Brief einer Rechtsanwaltskanzlei, dass das Unternehmen in betrügerischer Weise in Konkurs gegangen ist und ich Mitglied werden sollte in einer Klägergemeinschaft der Geschädigten …
Beispiel 2: Ich fuhr am 10.01.2016 am frühen Nachmittag mit meinem VW Polo an der Einmündung in der Frühlingsstraße vorbei, als ein 79-Jähriger namens Hansjörg Wecker mit seinem silbernen BMW ungebremst in die linke Seite meines Wagens krachte. Ich fühlte einen brennenden Schmerz im linken Bein und erschrak über die laut berstende Windschutzscheibe …
Schritt 2: Identifizieren Sie Details
Kreisen Sie ohne allzu großes Nachdenken mit einem farbigen Stift einzelne Begriffe Ihres Berichts ein, die Ihnen beim nochmaligen Durchlesen auffallen.
Beispiel 1: Prospekt, Novafina AG, 20.000 €, Bestätigungsurkunde …
Beispiel 2: Einmündung, Frühlingsstraße, Hansjörg Wecker, Windschutzscheibe …
Schritt 3: Treffen Sie eine Entscheidung
Der große Fehler vieler Menschen, die ein Unglück erlebt haben, ist die Fixierung auf die Schuldfrage. Sie geben dem Staat die Schuld („Der sollte diesen grauen Kapitalmarkt viel stärker kontrollieren!“), anderen Menschen („Der senile Depp sollte nicht mehr Auto fahren!“) oder sich selbst („Wie konnte ich nur so dämlich sein und darauf verzichten, genauere Auskünfte über die Novafina AG einzuholen!“).
Besser: Sehen Sie Unglücksfälle als Ergebnis der Verkettung überwiegend zufälliger Ereignisse: Hätte die Frau des Anlegers den Briefkasten geleert, hätte sie den Prospekt wohl gleich weggeworfen. – Nur weil er morgens beim Einkaufen etwas vergessen hatte, war Herr Wecker überhaupt zu seiner Mittagsschlafzeit mit dem Auto unterwegs. Shit happens, sagen die Amerikaner. Dadurch werden Sie frei, die Erfahrung nicht als Desaster, sondern als Wendepunkt zu sehen, nicht als Grund Ihrer Verzweiflung, sondern als außergewöhnliche Kraftquelle. Welche Bedeutung ein Ereignis für Sie hat, liegt nicht am Ereignis, sondern an Ihnen.
Schritt 4: Verwandeln Sie Ihre Erfahrung
Tun Sie so, als wären Sie selbst einer der eingekreisten Begriffe. Reden und denken Sie, als wären Sie der Verkaufsprospekt, die Geldsumme, der gegnerische Autofahrer. Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf, und schreiben Sie Ihre Einfälle auf. Beispiele: „Ich bin ein Verkaufsprospekt, schön gestaltet und wortgewandt. Ich verspreche anderen einen Gewinn und werde oft weggeworfen. Aber manche Menschen kann ich begeistern.“ – „Ich bin eine Straßeneinmündung. Ein Ort, an dem Menschen aufeinandertreffen, die sich nicht kannten.“ – „Ich bin Hansjörg Wecker, ein freundlicher alter Herr, der noch nie einen Verkehrsunfall verursacht hatte.“
Sie werden dabei merken: Auch bei einem Unglück gibt es erfreuliche Aspekte. Martha Beck berichtet, wie ihre Klienten in die Rolle der Einzelteile ihres Unglückserlebnisses schlüpften und dabei erstaunliche Erfahrungen machten. Der Mann, der das Geld verloren hatte, freute sich über den Optimismus, der ihn zum Ausgeben des vielen Geldes gebracht hatte. Die Autofahrerin erinnerte sich daran, wie wunderschön sie die zerbrochene Scheibe fand und dass sie bei dem Crash merkte, keine Angst vor dem Tod zu haben.
Schritt 5: Entdecken Sie Verborgenes
Lesen Sie sich den Zettel mit Ihren Aufzeichnungen nach einer Pause noch einmal durch, und machen Sie sich auf die Suche nach bisher verborgenen Bedeutungen.
Beispiele: Der unvorsichtige Anleger konnte aufgrund seiner schlechten Erfahrung mehrere Menschen in seiner Umgebung vor einem ähnlichen Fehlgriff bewahren. Die Polo-Fahrerin staunte, dass der Unglücksfahrer Wecker hieß. Denn sie nahm nach dem schmerzhaften Erlebnis ihr Leben viel wacher und dankbarer wahr als davor. Menschen können Wut und Verzweiflung in Lebensklugheit verwandeln, die Opferrolle in Aktivität, einen Fluch in reichen Segen.