Spiritualität: Herr, ich beginne zu altern!

Spiritualität: Herr, ich beginne zu altern!

Gebet einer unbekannten Äbtissin

Dieser Text, den wir in vielen Variationen und Übersetzungen gefunden haben, wird manchmal auch Teresa von Avila (1515-1582) zugeschrieben. Von wem immer er stammt – hier zeigt sich eine gesunde und humorvolle Weise, in der Spiritualität mit dem Älterwerden umzugehen. Das „psychische Verholzen”, so schrieb der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung, beginnt mit 35 – wenn Sie nicht aktiv für seelische Frische sorgen. Früh übt sich also, wer im Alter charmant und weise sein möchte.

Ich will nicht geschwätzig sein

Bewahre mich vor der schrecklichen Angewohnheit, bei jeder Gelegenheit und über jedes Thema mitreden zu wollen. Mach mich frei davon, alle Details aufzählen zu wollen. Gib mir die Fähigkeit, rasch zur Sache zu kommen. Lehre mich schweigen.

Bescheidenheit

Befreie mich von der Einbildung, ich müsse die Angelegenheiten anderer Leute in Ordnung bringen. Wenn ich meinen Schatz an Erfahrung und Weisheit bedenke, ist es freilich ein Jammer, nicht jedermann daran teilnehmen zu lassen. Aber Du weißt, Herr, dass ich am Ende nur ein paar wenige wirkliche Freunde brauche.

Geduld

Ich wage nicht, Dich um die Fähigkeit zu bitten, die Klagen meiner Mitmenschen über ihre Leiden mit nie versagender Teilnahme anzuhören. Hilf mir nur, sie mit Geduld zu ertragen. Versiegele meinen Mund, wenn es sich um meine eigenen Kümmernisse und Gebrechen handelt. Sie nehmen mit den Jahren zu – und meine Neigung, sie aufzuzählen, leider auch.

Keinen Starrsinn, bitte

Ich will Dich auch nicht um ein besseres Gedächtnis bitten, nur um etwas weniger Selbstsicherheit, wenn meine Erinnerungen im Widerspruch mit denen anderer Menschen stehen. Lehre mich die gesunde Erkenntnis, dass ich mich gelegentlich irren kann. Hilf mir, einigermaßen milde zu bleiben.

Zwischen Heiligkeit und Hölle

Ich habe nicht den Ehrgeiz, eine Heilige zu werden (mit manchen von ihnen ist so schwer auszukommen!). Aber ein mürrischer alter Mensch ist eines der Meisterwerke des Teufels.

Nichts allzu sehr

Lehre mich, nachdenklich zu sein, aber nicht grüblerisch. Hilf mir, hilfreich zu sein, aber nicht diktatorisch. Mach mich mitfühlend, aber nicht sentimental.

Liebe

Gewähre mir, dass ich Gutes finde, wo ich es nicht vermutet habe. Gib mir den Blick, bei anderen Menschen Fähigkeiten zu entdecken, die ich ihnen nicht zugetraut hätte. Schenke mir vor allem, Herr, die Gelegenheiten und die Liebenswürdigkeit, es ihnen zu sagen.

Schutz

Halte Deine schützende Hand über mich. Damit ich nicht schneller gehe, als meine Beine es zulassen. Damit ich nicht stolpere auf einem Weg, auf dem keine Steine sind. Und wenn mich andere überholen, dann unterdrücke in mir alle Neidgefühle. Ich danke dir für den langen Weg, den du mich bis hierher begleitet hast.

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