„Ich bin eben ein Perfektionist!“, entschuldigt so mancher sein eigenartiges Verhalten, aber zugleich schwingt häufig eine gehörige Portion Stolz mit. Doch die Neigung zu Perfektionismus kann Ihr Leben und Ihre Beziehungen ernstlich beeinträchtigen. Für alle, die ihre übertriebenen Ansprüche im Zaum halten möchten, haben die beiden kanadischen Psychologieprofessoren Martin M. Antony und Richard P. Swinson einen höchst erhellenden Ratgeber geschrieben. Hier unsere wichtigsten Erkenntnisse daraus:
Was Perfektionismus ist
Als Perfektionist/in gehen Sie von unrealistischen Standards aus, die unmöglich zu erreichen sind – weder von Ihnen noch von anderen. Anders als hohe Standards, die Leistung und Zufriedenheit fördern, sind perfektionistische Standards meist kontraproduktiv und lebensfeindlich. Eine Mail vor dem Absenden auf Tippfehler durchzulesen, ist eine freundliche Geste gegenüber dem Empfänger. Wer aber seine Mails mehrfach durchsieht, verschwendet kostbare Arbeitszeit. Wer erwartet, dass sein Kind ständig Top-Noten heimbringt, belastet dadurch die familiären Beziehungen. Wer immer der Beste sein will, findet an vielen Freizeitaktivitäten keinen Spaß. Perfektionismus beginnt beim Denken und äußert sich dann im Verhalten. An beidem können Sie ansetzen, um Ihren Perfektionismus abzubauen.
Typische Denkschablonen
- Alles oder nichts. „Wenn ich heute nicht zum Sport gehe, kann ich mich gleich abmelden.“
- Positives wird ignoriert. Ihr Chef hat Sie kritisiert, Sie sagen: „Er hält nichts von mir.“
- Negatives Gedankenlesen. „Sie erwähnt das Geschenk gar nicht. Sicher hat es ihr nicht gefallen.“
- Mögliche Unglücke werden überschätzt. „Bestimmt passiert auf dieser Reise wieder irgendeine Katastrophe.“
- Tunnelblick auf Details. „Bevor wir Gäste einladen können, müssen wir in der Toilette das Fensterbrett streichen.“
- Starke Abhängigkeit von der Meinung anderer. „Was werden die anderen Eltern denken, wenn unser Kind mit einem Loch in der Socke erscheint!“
- Schlimmster-Fall-Szenarios. „Wenn ich jetzt krank werde, platzt das ganze Projekt.“
- Inflexibilität. „Wenn wir keine Kinokarten mehr bekommen, ist unser Abend zu zweit verdorben.“
- Eigener Einfluss wird überschätzt. „Wenn ich meine Gesprächstaktik genau plane, werde ich meine Kunden überzeugen.“
- Abwertung anderer. „Wenn ich das dem Azubi überlasse, wird er es vermurksen.“
- Unangemessene Vergleiche. Angesichts einer Wohnzeitschrift: „Nie wird meine Wohnung so toll aussehen.“
- Rückwirkender Vorwurf. „Ich hätte die Probleme vorhersehen sollen.“
Erkennen Sie perfektionistisches Denken …
Am einfachsten gelingt das in Situationen, in denen Sie frustriert, verärgert, traurig oder besorgt sind. Denn nicht die jeweilige Situation ruft bei Ihnen diese Gefühle hervor, sondern Ihre Interpretation der Situation. Notieren Sie Ihre negativen Gefühle in einer Art Tagebuch. Schreiben Sie dazu, in welcher Situation das Gefühl auftrat, wie stark es war (auf einer Skala von 1 bis 10) und durch welche Interpretation es hervorgerufen wurde. Identifizieren Sie möglichst auch die dahinter stehende Denkschablone.
Beispiel: Sie ärgern sich maßlos (8 von 10), weil Sie das Geburtstagspäckchen an Ihre Freundin Doris zu spät abgeschickt haben. Dahinter steckt die Interpretation: „Doris wird denken, dass sie mir nicht mehr wichtig ist“, die auf den Schablonen „Negatives Gedankenlesen“ oder „Tunnelblick“ beruht. Oder Ihre Interpretation lautet: „Geschenke sollten immer pünktlich eintreffen.“ (Denkschablonen „Alles oder nichts“ oder „Rückwirkender Vorwurf“).
… und ändern Sie Ihre Interpretation
Betrachten Sie die betreffende Situation aus einem anderen Blickwinkel: „Doris wird sich so sehr über das Buch freuen, dass ihr die Verspätung egal ist“, oder: „Ihre Geschenke kommen auch nicht immer pünktlich.“ Fragen Sie sich, was für Ihre alte und was für Ihre neue Interpretation spricht. Überlegen Sie, welche Vorteile die alternative Denkweise Ihnen bietet („Wenn ich nicht immer alles so genau nehme, bin ich entspannter“). Wenn Ihnen die neue Sichtweise schwerfällt, wechseln Sie die Perspektive: Wie würden Ihr Partner oder ein alter Freund die Situation sehen?
Extra-Tipp: Lässt der Perfektionist in Ihrem Inneren nicht locker, setzen Sie ihm einen „Es-ist-o. k.“-Satz entgegen. Beispiel: Sie sind wahnsinnig aufgeregt vor einer Rede, die Sie halten müssen. Sagen Sie sich: „Es ist o. k., sich auch einmal zu versprechen.“ Und erinnern Sie sich lieber daran: „Es ist o. k., vorher aufgeregt zu sein“, als zu versuchen, sich die Aufregung auszureden.
Typisches Verhalten
- Zu viel des Guten tun. Um sicherzustellen, dass Ihr Partner Ihre Nachricht erhält, hinterlassen Sie sie nicht nur auf dem Anrufbeantworter, sondern schicken ihm noch eine SMS und rufen zudem noch Ihre Tochter auf dem Handy an.
- Probeläufe. Um garantiert pünktlich zu Ihrem Vorstellungsgespräch zu kommen, fahren Sie den Weg vorher ab.
- Neustart. Wenn Ihr gepackter Koffer nicht zu 100 % ordentlich aussieht, packen Sie alles noch einmal aus.
- Überorganisieren. Sie verbringen jeden Abend eine Stunde damit, den nächsten Tag zu planen.
- Angst vor falschen Entscheidungen. Wenn der Kellner im Restaurant die Bestellungen aufnimmt, entscheiden Sie sich noch zwei- oder dreimal um.
- Aufschieben. Weil Ihr Kondolenzbrief an eine gute Freundin wirklich persönlich sein soll, lassen Sie ihn wochenlang liegen.
- Kein Ende finden. Wenn Sie Ihren Partner von etwas überzeugen möchten, bombardieren Sie ihn so beharrlich mit Ihren Argumenten, bis er sich Ihrem Vorschlag schon aus Prinzip verweigert.
- Zu schnell aufgeben. Nachdem Sie bei der Online-Partnerbörse nach 4 Wochen noch niemanden zum Verlieben gefunden haben, kündigen Sie wieder.
- Schneckentempo. Sie brauchen zum Korrigieren wesentlich länger als alle Ihre Lehrerkollegen – schließlich wollen Sie sichergehen, dass Sie keinen einzigen Fehler übersehen.
- Unfähigkeit zu delegieren. Sie würden niemals Ihren Partner zum Schuhkauf mit den Kindern schicken, weil er „bestimmt mit den falschen heimkäme“.
- Dinge horten. „Für alle Fälle“ heben Sie sogar unwichtige Rechnungen 15 Jahre lang auf.
- Niederlagen vermeiden. Aus Angst, bei der Abschlussprüfung nur mittelmäßig abzuschneiden, nehmen Sie nicht an der Ihnen angebotenen Fortbildung teil.
- Andere korrigieren. Singt Ihr Teenager ein Lied aus dem Radio mit, verbessern Sie permanent seine englische Aussprache.
So ändern Sie es
Setzen Sie sich Situationen aus, in denen Sie Ihren perfektionistischen Standards nicht genügen. Die Erfahrung, dass dadurch nicht die Welt untergeht oder Sie sogar davon profitieren, dass Sie Ihre Standards senken, wird Ihnen helfen, perfektionistisches Verhalten und Denken zu verändern.
Beispiel: Wenn Sie Ihr Protokoll normalerweise x-mal umschreiben, bevor Sie es an die anderen Sitzungsteilnehmer verschicken, setzen Sie sich ein Zeitlimit. Sie werden die Erfahrung machen, dass Sie mehr Zeit für andere Tätigkeiten haben – und trotzdem niemand die Qualität der Mitschrift bemäkelt. Damit diese Strategie wirksam ist, müssen Sie sich möglichst häufig solchen Situationen aussetzen. In welchen Situationen zeigt sich Ihr Perfektionismus typischerweise? Machen Sie eine Liste mit 10 bis 20 Punkten, und ordnen Sie diese nach Schwierigkeitsgrad. Fangen Sie mit den für Sie einfacheren Situationen an, und arbeiten Sie sich langsam vor.
Beispiel: Sie putzen stundenlang, wenn Sie Gäste erwarten? Beginnen Sie damit, dass Sie Ihre Nachbarn spontan auf ein abendliches Glas Wein („in eine völlig ungeputzte Wohnung“) zu sich bitten – und steigern Sie sich, bis Sie es schaffen, Ihre pingelige Schwiegermutter ohne besondere Vorbereitungen zu sich einzuladen. Selbst wenn diese eine spitze Bemerkung fallenlassen sollte – Sie werden auch das überstehen!
Ganz wichtig: Erwarten Sie nicht, dass Sie sich wohl dabei fühlen! Im Gegenteil: Sehen Sie Ihre Bauchkrämpfe und Bedenken als Zeichen, dass Sie Ihre Testsituation gut gewählt haben. Den positiven Effekt werden Sie erst auf Dauer spüren. Aber es wird herrlich entspannend werden!
Autorin dieses ersten Teils: Ruth Drost-Hüttl
Wie Sie es schaffen, diesen simplify-Rat tatsächlich zu beherzigen
Ein ordentliches Mittagessen während des 10-Stunden-Arbeitstages. 14 Tage Erholungsurlaub im Sommer. Sich bei der Fahrt ans Urlaubsziel regelmäßig die Beine vertreten. Die Schwiegermutter von einem Pflegedienst betreuen lassen, während man selbst einfach ein paar Tage lang mal nichts tut. In Ruhe eine Tasse Kaffee trinken, obwohl die Wohnung schrecklich aussieht. Beim Wandern zwischendurch den Rucksack absetzen und den Blick in die Landschaft genießen. Die Organisation des Straßenfestes in diesem Jahr anderen überlassen. Geht nicht? Wirklich nicht?
Nicht in erster Linie Zeitmangel, sondern ihre innere Einstellung und ein ausgeprägter Perfektionismus machen es vielen Menschen schwer, sich kleine oder große Pausen zu gönnen. Verabschieden Sie sich von Ihren pausenfeindlichen Einstellungen!
Seien Sie sozial zu sich
Pausenfeindliches Motto: „Man darf sich selbst nicht so wichtig nehmen.“ Beispiel: Sie wollen es Ihrem Mann nicht zumuten, nach einer harten Arbeitswoche am Wochenende die Kinder/die alte Tante zu betreuen, „nur“ damit Sie mit einer Freundin 2 Tage wegfahren können.
simplify your Pause: Stehen Sie zu Ihrem Bedürfnis nach Abschalten, Nichtstun, Zeit für sich selbst! Gerade auch, wenn Sie sich als Christ dem Ideal der Nächstenliebe verpflichtet fühlen. Denn dieses Ideal fordert, den anderen wie sich selbst zu lieben. Das heißt: Sie müssen den Bedürfnissen anderer Menschen nicht automatisch Vorrang geben. Das kommt übrigens auch Ihrer Umgebung zugute: Sie sind leistungsfähiger, wenn Sie sich nicht permanent für andere aufopfern. Und Sie erleichtern es anderen, ohne schlechtes Gewissen zu ihren eigenen Bedürfnissen zu stehen.
Übernehmen Sie Verantwortung
Pausenfeindliches Motto: „Man lässt mir keine Wahl.“ Beispiele: Sie verzichten auf der Arbeit regelmäßig auf Ihr Mittagessen, weil Ihr Chef Ihnen mit Vorliebe am späten Vormittag „eilige Aufträge“ auf den Tisch legt. – Sie springen immer vom Sofa hoch, wenn eines Ihrer Kinder etwas von Ihnen will.
simplify your Pause: Delegieren Sie die Verantwortung für Ihr Wohlergehen nicht an andere, sondern nehmen Sie sie selbst wahr. Gehen Sie nicht davon aus, dass Ihre Umgebung wüsste, wie viel Anstrengung/ Nerven Sie die permanente „Rufbereitschaft“ kostet. Erwarten Sie keine automatische Rücksichtnahme. Sprechen Sie – wenn nötig, diplomatisch – aus, was Sie brauchen („Ich würde vorher noch gern in die Mittagspause gehen/ein paar Minuten ausruhen. Geht das?“). Möglicherweise hat Ihr Chef gar kein Problem damit, seine Aufträge 1 Stunde später loszuwerden! Vielleicht braucht er aber auch ein paar Anstupser Ihrerseits, um sich daran zu gewöhnen, seine Aufträge schon am Morgen zu kommunizieren.
Planen Sie Ihre Zeit nicht nach Schema AV
Pausenfeindliches Motto: „Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.“ Beispiel: Sie verschieben Ihren Waldspaziergang jeden Sonntag wieder auf das nächste Wochenende, weil das Haus nach der Renovierung noch nicht wieder in Schuss ist. simplify your Pause: Als Kind haben Sie vermutlich die Erfahrung gemacht, dass Sie das Spielen ganz besonders genießen konnten, wenn keine Hausaufgaben mehr auf Sie warteten. Aber: Auf Erwachsene wartet eigentlich immer Arbeit. „Alles erledigt“ – das ist ein Zustand, den Sie nie mehr erreichen werden. Und gerade deshalb sind Pausen besonders notwendig, denn sonst sind Sie bald erschöpft (bis hin zum Burnout). Planen Sie Pausen von vornherein in Ihren Alltag ein: einen kurzen Spaziergang in der Mittagspause, einen Musik-Hör- Abend pro Woche oder ein arbeits- und haushaltsfreies Wochenende im Monat. Gönnen Sie sich spontan eine Pause, wenn Sie eine nötig haben (z. B. 5 Minuten Entspannungsübungen nach einem anstrengenden Gespräch). Und nutzen Sie gute Gelegenheiten, die sich Ihnen jetzt bieten: dass das Wetter schön ist (am nächsten Tag soll es wieder regnen), dass ein Freund eine Konzertkarte übrig hat, dass Ihre Partnerin Lust auf einen Biergartenbesuch hat.
Bleiben Sie vielseitig
Pausenfeindliches Motto: „Erfolg hat seinen Preis.“ Beispiel: Weil Ihnen die Karriere sehr wichtig ist, nehmen Sie in Kauf, dass vieles andere – Ihre persönlichen Interessen, Ihre Beziehungen, Ihre Familienleben, Ihre Gesundheit – darunter leidet.
simplify your Pause: Geht ein Unternehmen pleite, so präsentieren die Medien gerne Interviews mit Angestellten, die für ihren Beruf gelebt haben und mit dem Job auch ihren Lebenssinn verlieren. Lassen Sie sich davon abschrecken! Setzen Sie in Ihrem Leben nicht alles auf eine Karte. Machen Sie Ihr Lebensglück nicht von Ihrem Arbeitsplatz oder einer Top-Position auf der Karriereleiter abhängig.
Sie glauben fest daran, dass Ihre Konzentration auf den Beruf nur vorübergehend ist („Wenn ich erst einmal Bereichsleiter bin, kümmere ich mich wieder mehr um …“)? Notieren Sie sich in der Kalendervorschau, wann Sie diese Workaholic-Phase beendet haben wollen, und stimmen Sie das mit Ihrem Partner/Ihrer Partnerin ab.
Übrigens gibt es auch viele Menschen, die ein glückliches und vielseitiges Privatleben führen und trotzdem – oder gerade auch deshalb – beruflich erfolgreich sind. Denn die Lebensfreude, die Ihnen enge Beziehungen schenken, und die Fähigkeiten, die Sie im Privatleben (Umgang mit Menschen, Hobbys etc.) entwickeln, kommen auch Ihrer Arbeit zugute.
Autorin: Dr. Ruth Drost-Hüttl